Christine Haller

R H Y T H M E N  U N D  Ü B E R G Ä N G E  J Ü R G E N  R Ö H R I G

Es ist nicht immer dieselbe Leier. Der Refrain als Wiederholung schafft einen Rhythmus, steht aber an jeder seiner Stationen in einem anderen, neuen Zusammenhang. Er markiert nicht nur Dauer, sondern auch Veränderung. So doppelwertig ist das Ritornell überhaupt: Seine Ordnung ist die des stetigen Übergangs. Körperorgane, Ballons, Insektenflügel, Karussells: Was sich zu den Gestalten auf Christine Hallers großformatigen Zeichnungen begrifflich assoziieren läßt, entstammt sehr unterschiedlichen Gegenstandsbereichen. Gemeinsam haben diese Vorstellungen, daß sie sich auf Dinge richten, die bewegt sind, sich bewegen lassen. Im undefinierten weißen Raum scheinen diese Formen zu schweben oder zu rotieren. Die Rotation um einen Mittelpunkt (»Ritornell«) oder um eine Achse – senkrecht zumeist, waagerecht in den beiden Zeichnungen ohne Titel von 2011 – verhindert, daß die Bewegung sich verliert, die Ordnung sprengt. Die extremen Proportionsunterschiede zwischen kleinen und großen Organen, und die langgezogenen statischen Verbindungen bringen die Gesamtform ins Ungleichgewicht; manchmal setzt die Zeichnerin Elemente bewußt neben die vertikale Achse, die die Ordnung bestimmt. Wenn der Betrachter hier schmunzelt, wird er es vielleicht auch angesichts der Ölfarbenzipfel tun, die pastos auf einigen Blättern sitzen. Ein Element von Humor in der Form – Paul Klee und Max Ernst haben ebenfalls damit gespielt –, das den Eindruck des Betrachters aber nicht bestimmt, ihn nicht in heitere Ruhe versetzt. Der Blick auf diese Zeichnungen hat viel mehr zu entdecken in der eloquenten Vielfalt der Handschriften und der Materialien, die Christine Haller instrumentiert. Mit Graphit-Stift und Kreide zeichnet sie, legt Schraffuren, Strichlagen und freie Linien in Schichten übereinander. Die Ölfarbenpunkte kommen dazu, ebenso die Gesten der Quasischrift und Ritzzeichnungen mit dem Skalpell. Die Groß-Formen entstehen additiv aus diesen Überlagerungen, bleiben meist ohne scharfe Konturen. Wenn aber die »Organe « scharf konturiert sind, dann hart und schwarz wie eine Öffnung im Papier. Der Blick erfasst die Makroformen und folgt dann wieder den Mikrostrukturen. In diesem Feld sind die »Organe« nicht einfach vorhanden und markiert, sondern sie erscheinen und lösen sich gleichzeitig auf, die Zeichnung pulsiert. 15 Beispiele aus dem Jahr 2013 mit dem Titel »passager« (»vorübergehend, vergänglich, flüchtig«), allesamt Hochformate, sind in der Ausstellung versammelt. Dazu die beiden erwähnten Arbeiten ohne Titel von 2011, die Programm und Technik der folgenden Zeichnungen bereits ausloten: eine waagerechte Achse verbindet zwei runde Formen; Gebilde wie Insektenflügel scheinen sich um die Achse zu drehen, jeweils auf der rechten Hälfte der Achse. Sie tarieren das Ungleichgewicht aus, dazu müssen sie ständig in Bewegung bleiben – die Spannung teilt sich dem Betrachter mit. Fünf große Blätter (102 x 111 cm und 120 x 160 cm) tragen den Titel, der auch Ausstellungstitel ist: Ritornell. Es sind Kreisornamente; Zeichenfelder werden von Zwischenlinien oder lippenförmigen Figuren regelmäßig unterbrochen. Passagen und Refrain: die traditionelle musikalische Struktur des Ritornells bekommt hier eine visuelle Form. Wie bei den »passager« genannten Blättern findet die wie flüchtig, in sich bewegt auftretende Zeichnung ihren Halt in der strengen Ordnung der Gesamtstruktur. Die Bezeichnung »Ritornell« versteht Christine Haller nicht allein als Beschreibung des Bildmotivs, vielmehr als Begriff für ihren künstlerischen Ansatz überhaupt. Vier der auf Burg Wissem ausgestellten Skulpturen tragen ebenfalls den Titel Ritornell (I–IV). Die große Herausforderung war, mit Meißel und Klüpfel aus dem Baumstamm Formen zu schlagen und zu stemmen, die der realen Schwere des Objekts (bis zu 300 Kilogramm) und seiner Statik widersprechen, ihr entfliehen. Wie die Zeichnungen wollen die Skulpturen den Eindruck von Fragilität und Bewegung im Raum vermitteln. Der Widerspruch zwischen offensichtlicher Schwere und Auflösung der Form (in der Kontur, in der Reihung) bleibt aber immer bestehen. Verschiedene Rhythmen werden in den Ritornell- Skulpturen wirksam: die Abfolge der Gefäße – Formen wie Boote, oder Schalen und Schoten – und die unterschiedlich gerichteten Strukturen der Oberfläche, die parallelen Einkerbungen. Die »Haut« hat dabei innerhalb der Schalen manchmal andere Rhythmen als außen. Dazu mischen sich in den Gesamteindruck die Maserung und die Risse im rohen Holz. So ergibt sich eine Form, die klare Abgrenzungen vermeidet; die Oberfläche vibriert im Licht-und- Schatten-Spiel der Kerben. Und die Reihung der Gefäße erscheint nicht abschließend. »Körper als Ort der Passage«, so die Künstlerin. »Das Bild ist ein kleines Ritornell (...). Das Bild läßt sich nämlich nicht durch das Erhabene seines Inhalts definieren, sondern durch seine Form, das heißt durch seine ‚innere Spannung‘, oder durch die Kraft, die es weckt, um eine Leere zu schaffen oder Löcher zu bohren, die Umklammerung der Worte zu lösen, das Hervorsickern von Stimmen zu ersticken, um sich vom Gedächtnis und der Vernunft zu befreien, ein kleines alogisches Bild, gedächtnislos, beinahe sprachlos, bald im Leeren schwebend, bald zitternd im Offenen.« Das Zitat aus dem Text von Gilles Deleuze: »Erschöpft« (über Beckett, S. 66f.) hatte Einfluss auf Christine Hallers Reflexion über ihr eigenes Werk. Hier akzentuiert es die Aspekte der inneren Spannung und des Schwebenden, die in der Beschreibung der zeichnerischen und skulpturalen Arbeiten eine wichtige Rolle spielen. »Eine Welt, deren Konstante die Flüchtigkeit ist« (so die Künstlerin) – was bedeutet in ihr das Ritornell? Der Begriff kommt aus der Musik, und wenn zu deren archaischem Ursprung das Lied im Dunkeln gehört, das die Angst bannen soll, dann ist in der Form des Ritornells ein Nachklang davon enthalten: Im Chaos erzeugen Wiederholung und Rhythmus ein Gegengewicht von Harmonie, architektonisch einen festen Ort, bildhauerisch die klar definierte Form. (Im Kapitel »Ritornell« haben Gilles Deleuze und Félix Guattari in »Mille Plateaus« auf solche Zusammenhänge hingewiesen.) Dem entsprechen die inhaltlichen Aspekte der Boot-, Schalen- oder auch Schöpflöffel- ähnlichen Gebilde: Das Ritornell des Bergens und Schützens in einer unsicheren, unfassbaren Umgebung erscheint hier als Metapher. Die Wiederholung, der Refrain, ist die Sicherheit, die die Bewegung gibt. Und ein Fehler im Rhythmus bringt die Gleichgewichte in Gefahr. Wir erfahren das körperlich, so wie ihrerseits die Bildhauerin bei der Arbeit am Holz eine metrisch organisierte Sprache der Körperbewegung spricht. Der Rhythmus verbindet sich mit dem des Atmens, der nicht stocken darf: Die Form, der Körper – so Christine Haller in einem Text zum Thema Zeichnung – lebt in der Spannung zwischen Innen und Außen; »die Haut wird durch Atmung modelliert «. Das Intervall ist der Zwischenraum, die Atempause. Rhythmus und Wiederholung gehören zur Bildsprache des Ornaments. Dabei handelt es sich nicht um eine dienende Schmuckform, sondern um eine gleichwertige Kategorie neben Abstraktion, Konkretion und Gegenständlichkeit. Das Ornament kann sich auf vielfältige Weise mit dem Gegenständlichen verbinden und es auf neue Weise sichtbar machen und deuten. In der gotischen Baukunst gab es bereits das Radfenster; die Rosette machte die Rose zur Paradiesblume, immer um ein Zentrum kreisend, mit Ernst Blochs Worten »Raumsymbol einer Vollendung «. Der Kunsthistoriker Alois Riegl (»Stilfragen «) entdeckte darin »die Tendenz (...), den Begriff des Rotierens, des Sichbewegens im Kreise sinnfällig zu machen«. Der Kreis hat ein Zentrum, um das sich alles dreht. Der Ruhepunkt und die Öffnung nach außen, die ornamentale Harmonie und die vielschichtigen Bewegungen und Räume – alle diese Aspekte bringt die Zeichnerin in den großen Kreis-Ritornellen zusammen. Sie öffnen sich in den gestischen Partien der Zeichnung dem nicht geometrisch exakt Fassbaren, dem Unsicheren – einem neuen Milieu. Refrain: Damit sind die Ritornelle hier nicht Bild der Vollendung, sondern öffnen den Raum für eine pulsierende Verbindung von Offenheit und Geschlossenheit, von Chaos und Ordnung. Bemerkenswert, daß Christine Haller ihre eigenständige Bildsprache ganz aus traditionellen Mitteln und Materialien entwickelt. Das Handwerk des Zeichnens wie das des Bildhauerns zeigt sich in ihren Arbeiten als immer noch äußerst produktiv. Die Anmutung des Archaischen rührt dabei auch aus den der organischen Natur angelehnten Formen; und die Erinnerung an die älteste bekannte Kunst der Menschheit, die abstrakt war – rhythmisch gereihte Kerben – schwingt mit. Daß ein Denken in Formen und Rhythmen möglich ist, ein Denken ohne sprachliche Begriffe, wird oft bestritten. »Ritornell« behauptet diese Möglichkeit mit Bildern einer existenziellen Auseinandersetzung – Bilder, die nicht einfach gut erfunden oder im Spiel zugefallen sind: »Die Bilder zwingen sich mir auf«, sagt Christine Haller, »sie sind im Kopf und wollen nach außen – mehr nicht.«